zero space times, styled like a ransom note made out of cutout letters

thoughts and things written into the void

spring or summer 2025
issue no. 11

front page | middle part | colophon

performen/verformen

[my thoughts and/or interpretation]

Content Notes: internalisierter und externer Ableismus, Erwartungen und Leistung, Mention of Fatphobia

Familienfest. Ich sitze auf der Treppe - bloß nicht im Weg, immer mit der theoretischen Option schnell nach oben zu verschwinden, aus Angst vor Unhöflichkeit dennoch festgeklebt - und sehe den anderen beim feiern zu. Sie reden und lachen und trinken und essen und ich fühle mich sehr fehl am Platz. Ich will nach Hause, ich will ins Bett, aber ich bleibe sitzen. Ab und zu stellt sich jemand zu mir, versucht mich in ein Gespräch zu verwickeln, aber wir kommen schnell an unsere Grenzen: Ich an meine Grenzen des Maskierens und der Erschöpfung, die Person an die Grenze ihrer Vorstellungskraft und Geduld. Ich fliehe in die Küche, unter dem Vorwand mir ein Wasser zu holen und entdecke auf dem Tisch etwas vertrautes: die Pillenbox meines Großvaters. Wir haben das selbe Modell: ein bunter Stapel an eingeteilten Dosen, gut sichtbar beschriften mit Wochentag und Einnahmezeit. Noch nimmt er mehr Medikamente als ich, aber ich glaube ich brauche nicht 60 Jahre um ihn einzuholen.

Nach dem Kaffee und Kuchen geht meine Familie spazieren - alle von den 6 bis 80 Jährigen - nur ich bleibe im Haus. Meine Gliedmaßen fühlen sich an, als seien sie mit Blei gefüllt: schwer und starr und voll mit einem dumpfen, pulsierenden Schmerz. Ich stolpere die Treppe mehr runter als dass ich gehe und falle ins Bett. Mit der letzten Energie krame ich nach meinen Kopfhörern und setze sie auf, dann wird auch das Armebewegen zu schwer. So bleibe ich liegen, unbeweglich und mit geschlossenen Augen. Nach einer Weile höre ich wie meine Familie zurück kommt. Mein kleiner Bruder ruft nach mir und als ich nicht antworte, stampft er die Treppe herunter um mich zu suchen (wie kann so ein kleiner Mensch so laut sein?). Er sieht mich im Bett liegen, brüllt noch oben, dass ich schlafe und geht wieder, enttäuscht. Die Tür lässt er natürlich offen. Ich habe ein schlechtes Gewissen ihm etwas vorzuspielen, denn ich schlafe nicht. Ich wünschte ich könnte es, aber es sind noch 8 Stunden, bis ich meine Medikamente nehmen kann und ohne sie ist an Schlaf nicht zu denken. Trotzdem ist es so leichter. Es ist leichter mir die Kommentare über meine Müdigkeit oder die Faulheit der Jugend anzuhören, als zu erklären was los ist.

Glauben würden sie mir sowieso nicht. Jeder ist mal müde, jeder ist mal erschöpft und ich soll mich nicht beschweren, schließlich bin ich nicht alt, habe ich keine Kinder und arbeite nicht Vollzeit. Meine Energielosigkeit ist nicht gerechtfertigt und wenn doch, dann ist es selbst verschuldet. Bestimmt habe ich Eisenmangel, weil ich kein Fleisch esse. Oder es liegt an zu wenig Vitamin D, weil ich nicht genügend rausgehe. Sport machen sollte ich in jedem Fall und mehr essen - aber nicht zu viel, sonst werde ich übergewichtig und dann ist man ja eh nutz- und energielos. Sie meinen es nicht böse, sind Kinder ihrer Zeit und Sozialisation, aber ihre Enttäuschung und Verwirrung ist spürbar in jeder Interaktion. Irgendetwas ist "falsch" gelaufen, hat mich von meinem Lebens- und Karriereweg abgebracht und zu jemandem, zu etwas anderem gemacht, aber sie wissen nicht was. Im Zweifelsfall war es meine Mutter, die mögen sie eh nicht. Oder meine Queerness, die verstehen sie eh nicht. Oder ich - gleichzeitig Opfer meiner Umstände, Schuldiger für die Entstehung der selbigen und Täter gegen die Version, die ich in ihren Augen hätte sein sollen.

Ich gebe mein bestes verständnisvoll zu sein, schließlich bin ich auch enttäuscht und verwirrt. Ich hab mir mein Leben auch anders vorgestellt, trotzdem scheint es sie schwerer zu treffen als mich. Es gelingt mir nicht immer, aber meistens kann ich mich mit realistischeren Lebensentwürfen abfinden und manchmal gefallen sie mir sogar. Ich wollte immer Physik studieren, einen Doktortitel haben, an Raketen oder Satelliten mitentwickeln oder am CERN arbeiten. Ich wollte nach Japan gehen, die Sprache lernen, Roadtrips machen und an internationaler Forschung mitwirken. Ich wollte viel, will es noch immer, aber ich kann nicht. Kann nicht reisen, kann nicht wandern, kann nicht unter Menschen sein, kann mich nicht viel unterhalten, kann mich nicht konzentrieren, kann mich nicht erinnern, kann nicht genug lesen, lernen und studieren.

Ich kann vieles nicht, also versuche ich mit dem klarzukommen, was ich kann, gestalte mein Leben um die gebliebenen Möglichkeiten herum. Das Ergebnis ist ruhig, gemächlich und langweilig. Ich lebe im Energiesparmodus, kratze jedes gesparte Prozent zusammen um mir ab und zu etwas leisten zu können. Zum Beispiel Freund:innen zu besuchen oder selbst Besuch zu haben, auf kleine Konzerte oder noch kleinere Demonstrationen zu gehen - kurz, um das zu machen, was so viele andere einfach können. Ich wünschte es wäre mehr, aber für jetzt muss es genug sein. Alles ist "für jetzt", denn ich weiß nicht, was die Zukunft bringt oder wie es mir dann gehen wird. Vielleicht besser, vielleicht schlechter - so oder so, ich werde mich anpassen (müssen). Es ist anstrengend die eigenen Erwartungen und Ziele, selbst die eigene Identität ständig revidieren zu müssen, aber was bleibt mir anderes übrig? Starre Körper zerspringen wenn sie fallen, weiche verformen sich nur. Weichheit ist nicht Schwäche und ich muss lernen weich zu sein. Der Rest der Welt ist hart genug.

All das geht mir durch den Kopf während ich liege und warte, bis es mir gut genug geht um weiter zu performen. Um mich wieder zu verformen. Ich hoffe nur, ich reiße nicht.